Hans-Kunz-Gesellschaft

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Hans-Kunz-Tagung, 22./23.10.2004
22.10.2004, 17h, Schloss Waldegg, Solothurn:

Begrüssung durch Frau Landammann Ruth Gisi

1. Hans Kunz als «Solothurner»

Hans Kunz war zwar heimatberechtigt in Brittnau/AG, er hat jedoch seine ersten sechs Lebensjahre im Kanton Solothurn verbracht, und zwar in Trimbach. (Wir haben heute in der Ausstellung in der Zentralbibliothek Solothurn eine Foto gesehen, die den jungen Hans Kunz mit seinen Eltern und Geschwistern vor der «Milch-, Käse- und Butterhandlung Johann Kunz» in Trimbach zeigt.) Diese ersten Jugendjahre haben sich in Kunz' Erinnerung niedergeschlagen. In einem kurzen autobiografischen Text hält er frühe Naturbeobachtungen präzise fest:

Längs der Landstraße nach Olten erhob sich ein steil abfallender Fichtenwald, der für den Blick aus meinem Schlafzimmer den Horizont begrenzte. In hellen, stürmischen Nächten sah und hörte ich die rauschenden Wipfel hin und her wanken; war es still, riefen von dort oben die Waldkäuze.

Auch an auffällige Personen erinnert er sich, ebenso präzise und mit leisem Humor geschildert:

So gab es einen Seminaristen, der durch sein sonderbares Benehmen auffiel: Stundenlang verharrte er regungslos an derselben Stelle an einem Waldrand und schien, in sich versunken, tiefen Gedanken nachzuhängen. Der Bart und das auf die Schultern fallende blonde Haupthaar paßten damals zum Bild eines jungen, sich vermutlich mit Christus identifizierenden Paranoiden. Zu uns Kindern sprach er mit leiser, milder Stimme. Später ist er Wirt geworden, und als solcher veröffentlichte er ein abstruses Buch, eine Art «charakterologischer Diagnostik», die seinerzeit immerhin von einem Philosophen als beachtliche Leistung begrüßt worden sein soll.

Hans Kunz' Familie ist im Jahre 1911 nach Basel gezogen; mit kurzen Unterbrüchen ist er zeitlebens dort geblieben. Den Bezug zum Kanton Solothurn hat er nicht verloren: Sein begabter älterer Bruder Ernst, Komponist (in jungen Jahren auch Lyriker), lebte mit seiner Frau, der Oltnerin Elisabeth Hermine Meyer und seinem Sohn Hans in Olten.

Exkurs: Ernst Kunz (1891-1980)

Lassen Sie mich kurz ein Schlaglicht auf diesen Bruder Ernst Kunz werfen: Auch er war ausserordentlich begabt; genau wie sein Bruder Hans Kunz hätte er, wenn er weniger bescheiden gewesen wäre, eine weitaus glanzvollere Karriere bewältigen können. Er arbeitete nach dem Besuch des Lehrerseminars Wettingen und einem Musikstudium in München als Theaterkapellmeister in Breslau und Rostock und wurde von Bruno Walter als Korrepetitor an die Münchner Hofoper geholt, wo er u.a. Assistent von Hans Pfitzner war. Hans Huber berief ihn von dort als Theorielehrer an das Konservatorium Basel. 1916 verzichtete Ernst Kunz auf den Glanz der grossen Welt und trat die Stelle eines Musikdirektors in Olten an, die er bis 1966 inne hatte. Neben der Schularbeit komponierte er, u.a. eine Oper, ein Requiem, Chorlieder, eine Toccata für Klavier u.a.m. Der musikalische Nachlass von Ernst Kunz liegt ebenfalls in der Zentralbibliothek Solothurn, seit Juni 2004 als Depositum; die Verhandlungen laufen, wir hoffen, dass er dort bleiben wird.

Was Hans Kunz aber eigentlich zum «Solothurner» macht, ist die Tatsache, dass sein Nachlass in der Zentralbibliothek Solothurn deponiert ist. Hier hat der Zufall mitgespielt, der Zufall, dass der Thurgauer alt Regierungsrat Felix Rosenberg eine Solothurnerin, die damalige Ständerätin Rosemarie Simmen, angefragt hat, ob sie das Präsidium der neugegründeten Hans-Kunz-Gesellschaft übernehmen würde.

Frau Simmens persönlicher Einsatz und derjenige der anderen Solothurner Akteure legen Zeugnis ab vom vielgerühmten «Wengi-Geist» der Solothurner: Der Schultheiss Niklaus Wengi der Jüngere hat 1533 bei der Konfrontation von Katholiken und Reformierten ein Blutvergiessen verhindert, indem er sich vor die Kanone gestellt hat, die auf die reformierten Vorstädter gerichtet war. Seither ist Wengis «Geist» sprichwörtlich für die solothurnische Haltung des Vermittelns, Diskutierens, Tolerierens. Diese Tugenden waren nötig, als die Frage des Aufbewahrungsortes des Nachlasses Hans Kunz Ende des vergangenen Jahrhunderts gelöst werden musste. Frau alt Ständerätin Rosemarie Simmen hat das grosse Verdienst der Vermittlung und der Problemlösung, indem sie die Zentralbibliothek Solothurn als neutralen Aufbewahrungsort vorgeschlagen hat und tatkräftig und mit Überzeugungskraft dafür gesorgt hat, dass dieser Plan unverzüglich umgesetzt werden konnte, mit Hilfe der damaligen Direktorin der Zentralbibliothek Solothurn, Frau Dr. Christine Holliger, die sogleich von der wissenschaftlichen Qualität der Archivalien und der Bedeutung für das Ansehen der Bibliothek überzeugt war.

Auch die Hans-Kunz-Gesellschaft, ganz besonders der Editionsleiter Dr. Jörg Singer, höre ich, ist zufrieden mit dieser Lösung: Hier in Solothurn, in der mittelgrossen Bibliothek, ist der Nachlass - wie erwähnt - an einem neutralen Ort, darüber hinaus ist er etwas ganz Besonderes, «keine Nummer», und Herr Singer hat die Gelegenheit erhalten, ein eigentliches Kunz-Archiv einzurichten.

2. Philosophie in Solothurn

Der Nachlass Kunz sei in der Zentralbibliothek Solothurn «etwas ganz Besonderes». Tatsächlich?

Solothurn ist kein schweizerisches Athen, es ist aber auch nicht einfach ein «Holzboden» für die Philosophie. Werfen wir einen Blick zurück in die Vergangenheit, auf die Rolle der Philosophie im Schulwesen der Stadt Solothurn, und werfen wir einen Blick in die Magazine der Zentralbibliothek, der Nachfolgebibliothek aller grösseren Bibliotheken Solothurns seit dem 18. Jahrhundert!

Jesuitenkollegium

Die wichtigste Schule des alten Solothurn war das Gymnasium des Jesuitenkollegiums, das 1646 mit 150 Schülern eröffnet wurde. Es umfasste 5 Klassen und galt nach der Studienordnung der Jesuiten, der «ratio et institutio», als «untere Schule», welche Grundlagenfächer unterrichtete, u.a. in den alten Sprachen: hauptsächlich Latein, sehr viel weniger Griechisch - jedenfalls zu wenig für die Lektüre der griechischen Philosophen. Um 1700 wurden erste Lyzealklassen eingeführt, 1719 wurde die Schule damit nach der jesuitischen Studienordnung definitiv zu einer «mittleren Schule» erhoben. Eine der Lyzealdisziplinen war die Philosophie. Die Lyzeisten scheinen sich allerdings statt der vertieften Beschäftigung mit der Philosophie eher den Wirtshäusern, Weinschenken, Pastetenbäckereien und Spielhäusern gewidmet zu haben (Schulordnung 1712!). Da die Studienordnung der Jesuiten für ein Lyzeum einen dreijährigen Kurs in Philosophie vorsah (1. Jahr Logik; 2. Jahr Physik mit Mathematik; 3. Jahr Psychologie und Metaphysik), wurde 1730 die Errichtung einer zweiten Professur für Philo-sophie notwendig.

Unser Schluss aus diesem historischen Rückblick: Wer das Jesuitenkollegium besuchte - Bürgersöhne aus Solothurn, aber auch aus andern katholischen Orten, sogar aus dem Elsass -, wurde von den zwei Philosophieprofessoren in den philosophischen Fächern solide und nach dem strengen Kanon und dem Qualitätsstandard der Jesuiten ausgebildet. - Die Bibliothek des Jesuitenkollegiums befindet sich heute, wie die anderer im 19. Jahrhundert aufgehobener Klö-ster, in der Zentralbibliothek. Eine Überprüfung der 1024 Werke aus dem 18. Jahrhundert, die sich in der Sachgruppe Philosophie befinden, zeigt einen soliden Bestand ohne Besonderheiten.

Professorenkollegium

Nach der Aufhebung des Jesuitenkollegiums durch Papst Clemens XIV. im Jahre 1773 ging die Schule in die Hoheit des Rates der Stadt Solothurn über. Mit einigen ehemaligen Jesuiten (sie waren jetzt zu Weltgeistlichen geworden) wurde sie als «Professorenkollegium» weiter-geführt. Griechisch wurde nicht mehr gelehrt; es gab weiterhin zwei Professoren für Philosophie (1799 wurde Französisch als Freifach eingeführt). Die Lyzealklasse wurde im Laufe der Zeit in einen philosophischen und einen theologischen Kurs aufgeteilt, wobei der philosophische die folgenden Inhalte aufwies: Logik, Metaphysik, Ethik und Mathematik; Psychologie, Naturtheologie. - Bald schon hatte die Schule aus vielen Gründen den Ruf zu stagnieren, u.a. auch wegen der scholastischen Schulmethode. Im Jahre 1821 gründete denn auch eine Anzahl von Lyzeasten eine Gesellschaft, die «Freiheit in der Wissenschaft und im Leben» forderte, eine Gruppe, die keine stillen philosophischen Studien trieb: Sie schloss sich 1823 als solothurnische Sektion dem aufmüpfigen schweizerischen Zofingerverein an, musste sich aber bald darauf selber auflösen. Ich erwähne diese Sek-tion, weil in diesem Jahr ihr Archiv als Depositum nach Solothurn zurückgelangt ist, ebenfalls an die Zentralbibliothek.

Höhere Lehr- und Erziehungsanstalt des Kantons Solothurn

Die konfessionelle Schule konnte sich noch bis 1832 halten; sie ging nach heftigen Kämpfen zwischen Liberalen und Konservativen auf in der «Höheren Lehr- und Erziehungsanstalt des Kantons Solothurn». Sie unterschied sich allerdings in den Hauptmerkmalen wenig von der Organisation des Professorenkollegiums. Auch am neuen Lyzeum waren lateinische und griechische Philosophie wieder auf dem Stundenplan; wenig später legte man Philosophie und Geschichte auf dieser Stufe jedoch zusammen. Im Laufe des Jahrhunderts wurden dann - wie überall - die technischen Wissenschaften immer stärker in die Lehrpläne einbezogen. Ein Abbild davon ist der Buchbestand an älteren Philosophica und Naturalia in der Zentralbibliothek: Er umfasst aus dem 19. Jahrhundert 1380 Werke, die Sachgruppe Naturwissenschaften hingegen 1763 Werke. - Die philosophischen Werke des 19. Jahrhunderts sind vielleicht noch stärker auf den Schulunterricht ausgerichtet als diejenigen des 18. Jahrhunderts: Es gibt Sammlungen von Vorlesungen, es gibt Handbücher oder, in der Studentenbibliothek, summarische Werke wie z.B. das Buch von Maximilian Karl Friedrich Wilhelm Grävell: Der Mensch: eine Untersuchung für gebildete Leser. Reutlingen, 1819.

Die Solothurner Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts, an der höheren Schule eine solide philosophische Bildung anzubieten, entspricht natürlich vergleichbaren Städten. Diese Tradition wird übrigens auch im 21. Jahrhundert an der Kantonsschule Solothurn wachgehalten, heute auch oft verbunden mit der neuen Technik: So hat eine Philosophieklasse vor einigen Jahren im Internet auf hohem Niveau über Leibniz gechattet.

Ich halte fest: Die philosophische Bildung ist in Solothurn immer gepflegt worden, aber eine herausragende Bedeutung hat die Philosophie für Solothurn nie gehabt. Insofern ist der wissenschaftliche Nachlass eines Philosophen für die Zentralbibliothek und für Solothurn etwas ganz Besonderes. Ein exotischer Gast ist der Nachlass Hans Kunz allerdings aus den gleichen Gründen auch nicht.

3. Zur Bedeutung von Hans Kunz

Lösen wir uns von Solothurn! Wir widmen unsere Tagung dem bedeutenden Gelehrten Hans Kunz. Für sein Werk, für die gelehrte Welt spielt der lokale Bezug eine geringe Rolle. Inwiefern ist er, ist sein Nachlass «etwas ganz Besonderes»?

Die FAZ hat am 12. Juni 2001 das Erscheinen des ersten Bandes der Werkausgabe Kunz mit dem Titel gefeiert: «Elf Pflanzen tragen seinen Namen - ein neuer Stern der Philosophie: Hans Kunz betritt die Bühne.» Der Rezensent Ralf Drost gesteht, nicht einmal den Namen Kunz gekannt zu haben, spricht nach der Lektüre dieses Bandes jedoch von seiner «gespannten Erwartung» der folgenden Bände. In anderen Kreisen hingegen ist das Andenken an den Philosophen allgegenwärtig, auch wenn seine Schriften seit langem vergriffen oder in schwer zugänglichen Fachzeitschriften publiziert worden sind. Ein Philosoph, der in Deutschland studiert hat, erzählt, wie dort von dem Schweizer gesprochen worden sei; ein Hispanist, der in Basel studiert hat, erzählt mit leuchtenden Augen von den Vorlesungen, die er bei Professor Kunz besucht hat; die erste Reaktion eines Germanisten, der von der Zentralbibliothek Solothurn hört, ist die Nachfrage: «Dort liegt doch der Nachlass Kunz?».

Diese Anekdoten bestätigen zwei wichtige Fakten: Die Bedeutung von Hans Kunz für die Philosophie des 20. Jahrhunderts ist in der Fachwelt unumstritten, sie sei vergleichbar mit derjenigen Heideggers, hören wir. Und: Die Edition des Werks ist von vordringlicher Notwendigkeit, damit Kunz breiter wahrgenommen wird. Dass sich der Verlag Huber Frauenfeld, insbesondere Verlagsleiter Hansrudolf Frey, dieses Projekts derart engagiert annimmt, ist ein ausgesprochener Glücksfall.

Mit der Erwähnung der Edition schlagen wir den Bogen doch wieder zurück zum Lokalen, zur Zentralbibliothek Solothurn: Hier befindet sich das Archiv mit dem Rohmaterial für die Edition, hier ist die Arbeitsstätte, die es dem Editionsleiter Dr. Jörg Singer erlaubt, die neu erscheinenden Texte anhand der Handbibliothek, der Manuskripte, der Druckfahnen kritisch zu sichten und zu kommentieren. Die Bedeutung dieses Archivs für die Edition und diejenige der Edition für die Verbreitung von Hans Kunz' Werk sind unschätzbar: Von allerdings immateriellem Nutzen für die Zentralbibliothek, die abgesehen von Sealsfield und Hesse keine Sammlungen von internationaler Bedeutung besitzt, und für den Kanton Solothurn als Bildungsstandort, der erst vor kurzem mit den Fachhochschulen zu einem Hochschulkanton geworden ist.