Hans-Kunz-Gesellschaft

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Jürgen Mohr
Ein Denker zum Entdecken
Hans Kunz - Philosoph, Psychologe, Botaniker
Erschienen in: Basler Zeitung, 23. September 2008, Kulturmagazin, Seite 9.

Die Hans-Kunz-Gesellschaft, die Philosophische Gesellschaft Basel und die Basler Botanische Gesellschaft würdigen in einer Ausstellung im Kollegiengebäude der Universität den Gelehrten Hans Kunz und machen auf seine Werkedition aufmerksam.

Der in Trimbach (SO) geborene Hans Kunz (1904-1982) lehrte nach seinem Studium in Heidelberg und Basel von 1945 bis 1973 an der Basler Universität. 1949 erhielt er die Einladung, am 1. Internationalen Nachkriegskongress für Philosophie in Mendoza (Argentinien) das Eröffnungsreferat zu halten. Doch Kunz zog es vor, mit dem befreundeten Botaniker Walo Koch eine Exkursion in die Alpen zu unternehmen. Zahlreiche deutsche Universitäten bemühten sich um ihn. Die Philosophen Gadamer und Löwith bewirkten 1957 einen Ruf an die Universität Heidelberg, doch auch diesen lehnte Kunz ab und blieb in Basel.
Von all dem erfuhr in Basel niemand etwas, sodass Kunz hier gleichsam unerkannt in relativer Stille sein immenses Werk schaffen konnte. Wer ihm begegnete, war beeindruckt von seiner Bescheidenheit, Ruhe und Gelassenheit, der jede Art von Eitelkeit oder gar Ehrsucht fremd war.

Anthropologie
Zentral waren für ihn die Arbeit am Schreibtisch, das intensive Gespräch mit Freunden und seine Exkursionen in der Natur. Seine Lehraufgaben fielen ihm nicht leicht. Ihm missfiel alles «Belehren» und das laute Wort. Doch war er den Studierenden gegenüber von grossem Wohlwollen, begleitet von Zurückhaltung, um ihnen ja nichts aufzuzwingen. Er erwartete Selbstständigkeit und anerkannte auch Leistungen, die seinem eigenen Denken fremd waren. In der nicht seltenen Einstellung, der eigenen Forschungseinrichtung den höchsten Rang einzuräumen, hat er «nie etwas anderes als das Symptom einer menschlichen Unreife und Beschränktheit sehen können».
Seine Professur war mit «Philosophische Anthropologie und theoretische Psychologie» umschrieben. Befasst sich die Psychologie mit dem menschlichen Erleben und Verhalten und ihren vielfältigen Wechselbeziehungen und bearbeitet die Psychopathologie deren Entgleisungen, so zielt seine philosophische Anthropologie auf die zugrunde liegenden existenziellen Möglichkeiten. In allen drei Bereichen war es für Kunz entscheidend, den Zusammenhang mit dem erfahrungsgeleiteten Denken zu bewahren. «Dazu bedarf es einer sorgfältigen, unbestechlichen Unterscheidung zwischen den erfassten gegebenen Gestalten und den sie interpretierenden, zum Teil mitgestaltenden Auffassungsakten.»

Habilitation
Zu Kunz' zweibändiger Habilitationsschrift «Die anthropologische Bedeutung der Phantasie» urteilte Heidegger, dass sie «inskünftig in jeder Werkstatt des Denkens zur Hand sein» müsse. Eine zentrale Frage in ihr ist, was es dem Menschen ermögliche und ihn wieder dazu bewege, immer wieder und losgelöst von den Bezügen zu der einzigen konkreten Welt ideelle, imaginative Welten zu schaffen: Sprachwelten, Bildwelten, Vorstellungswelten, Traumwelten, Wahnwelten, «Gedankendichtungen». Zu Letzteren zählte er beispielsweise Heideggers Werke nach dessen «Kehre».
In der gegenwärtig so lebhaft geführten Debatte zur Willensfreiheit ist seine Position der von Tugendhat, Bieri und Kamlah verwandt. Diese sehen in der inneren Distanzierungsfähigkeit durch das Denken die Voraussetzung von Freiheitsakten als nicht hinterfragbares Faktum. Kunz geht darüber hinaus, indem er in äusserst differenziert begründeten Hypothesen einen Zusammenhang aufweist zwischen dem Denken und dem Tod. Als stets gegenwärtiger möglicher Tod konstituiert er unsere Existenz mit. Aus diesem «inständigen Tod» ergibt sich im Denken das Nichts, das Distanznahme ermöglicht.

Psychologie
Schon Kunz' frühe Arbeiten - besonders die zur Wahnproblematik - veranlassten den Psychiater Ludwig Binswanger zu dem überschwänglichen Urteil, «dass Hans Kunz der einzige zeitgenössische Psychologe ist, der in die Zukunft weist». Aus der Themenvielfalt beeindrucken vor allem auch die Arbeiten zu «Aggressivität und Zärtlichkeit». Für die in der menschlichen Natur verwurzelten vielfältigen aggressiven Impulse weist Kunz nach, dass sie keine Triebstruktur haben. Ihnen stehen gleich ursprüngliche Zärtlichkeitsimpulse gegenüber. Diese fundieren zum Beispiel die Möglichkeit einer bewahrenden, schützenden Haltung.
Sehr viele Arbeiten von Hans Kunz befassen sich mit der Psychoanalyse. Freuds Nachweis der eminenten Bedeutung des nichtbewussten seelischen Geschehens für unser Erleben und Verhalten, die unaufhebbare Konflikthaftigkeit unserer Antriebe und Bedürfnisse gewichtet Kunz neben anderem als entscheidende Erweiterung unseres Wissens über den Menschen. Freuds Triebtheorien hält er dagegen für gänzlich überholt, den Aufbau von Es - Ich - Über-Ich sieht er als verfehlte Gedankenkonstruktion, und das viel zitierte «Lustprinzip» gehört für ihn «in die Reihe der von der Spekulation ausgeheckten Gedankendinge». Vor allem aber versagt die Psychoanalyse vor der «ungeheuren Tatsache des Denkens». Aber auch diese enthebt den Menschen nicht aus der Naturgebundenheit seines Lebensgeschehens zwischen Geburt und Tod.
Alle Arbeiten von Kunz sind geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur. Etwa 1000 (!) Rezensionen in den verschiedensten Fachzeitschriften, die von ihm gemeinsam mit Mitscherlich und Schottlaender begründete Zeitschrift «Psyche» und seine Jahrzehnte währende Tätigkeit als Redaktor der «Studia Philosophica» bezeugen das eindrücklich.

Botanik
Es erscheint unglaublich, wie Kunz neben diesem umfangreichen Werk Zeit fand, sich seiner Liebe zur Botanik zu widmen. Für ihn war der Reichtum der Gestalten, Farben und Bewegungen in der Natur ein immer wieder beglückendes Erlebnis. Ungezählte Exkursionen führten ihn durch die gesamte Schweiz, nach Frankreich, Italien und Spanien. Er durfte von sich sagen, dass er «bis auf eine Handvoll extrem seltener oder ausgestorbener Arten die gesamte Flora der Schweiz aus eigener Anschauung» kenne. Seine ausserordentliche Beobachtungsfähigkeit ermöglichte ihm zahlreiche Neubestimmungen und Bestimmungskorrekturen. Zwei Bände der Werkausgabe werden Kunz' botanische Schriften zusammenfassen.
Seiner grossen Liebe zur Natur entsprach eine tiefe Trauer über die ständig wachsende Zerstörung der Natur durch die Masslosigkeit der menschlichen Besitz- und Machtstrebungen.