Hans-Kunz-Gesellschaft

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Hans Saner
Wir sind nie ganz zu Hause in der Welt
Einen Gelehrten von Rang gilt es zu entdecken: Hans Kunz (1904-1982) war Philosoph, Botaniker und Psychologe. Eine Gesamtausgabe präsentiert den Kosmos des Schweizers.

Erschienen in: Tages-Anzeiger, 27. April 2007.

Die Liebe zur Natur wurde ihm in die Wiege gelegt. Sie prägte sich vorerst als Beziehung zu Kleintieren aus: zu Fischen, Vögeln, Schmetterlingen, Käfern und Igeln, die er womöglich in ihren natürlichen Biotopen so exakt beobachtete, dass ihm schon als Knabe auffiel, wie ungenau zum Beispiel der «Brehm» in seinen Beschreibungen war. Aber sein eigentliches naturwissenschaftliches Interesse lag auf botanischem Gebiet. Früh nahm er sich vor, eine Monografie des «Genus Ranunculus» zu schreiben. Davon sei, so sagte er später in der Selbstdarstellung, «freilich nur eine Vorliebe für die Hahnenfüsse und eine klärende Studie über eine kleine Artengruppe übrig geblieben».

Die botanischen Studien begleiteten ihn fortan durch das ganze Leben. Er unternahm, teils allein, teils mit Freunden, «ungezählte» Exkursionen, die sich auf den ganzen Alpenzug ausweiteten, auf das französische Zentralmassiv, die Pyrenäen, auf Korsika, Sardinien, den Apennin und die spanische Sierra Nevada. Er kannte schliesslich praktisch die gesamte Flora der Schweiz und grosse Vegetationsbereiche anderer Länder aus eigener Anschauung. Seine naturwissenschaftlichen Prinzipien waren immer: «Die Fähigkeit des differenzierenden Sehens» bei jeder Gelegenheit üben; weder den Suggestionen der Begriffe noch der Bücher erliegen; vielmehr alles «an Ort und Stelle» beobachten; immer von den Singularitäten ausgehen, was alle Lebewesen ja auch sind; und nie vergessen, dass die Beschreibungen von systematischen Einheiten weit «hinter der Merkmalsfülle der sie repräsentierenden Exemplare» zurückbleiben.

Von der Flora zur Seinsphilosophie

Der wissenschaftliche Ertrag dieses im weitesten Sinn phänomenologischen Vorgehens durfte sich sehen lassen. Mehrere Revisionen von europäischen Pflanzen – es scheinen 17 zu sein – tragen seinen Namen, darunter auch ein «Ranunculus Kunzii». Zwei oder drei Pflanzen, so beziffert Kunz, seien «Entdeckungen im eigentlichen und engsten Sinne», also neu auch für die Wissenschaft, was bedeutet, dass vor Kunz noch kein Botaniker sie bewusst gesehen hat. Diese Verknüpfung seines Namens – vielleicht auf alle Zeiten – «mit einem Erzeugnis der blühenden Natur» bedeutete ihm mit Sicherheit mehr als die Verbindung seiner Person mit der Zunft der Philosophen und Psychologen.

Im Sommer 1927 ging Kunz nach Heidelberg. Er hörte dort bei Karl Jaspers die Vorlesung «Grundriss der philosophischen Weltanschauung», deren Inhalt etwa der späteren «Philosophischen Weltorientierung» und der «Existenzerhellung» entsprach. Der erste Eindruck sowohl der Vorlesung wie der Person war «massgebend». Er trübte sich bald einmal, weil Jaspers, so Kunz, für den geistigen Rang Sigmund Freuds blind war. Später wuchs die Skepsis in dem Mass, wie bei Jaspers das Interesse für die politische Reflexion zunahm.

Das überragende «Ereignis des Jahres» war für Kunz das Erscheinen von «Sein und Zeit» von Martin Heidegger. Das wachsende Misstrauen auch ihm gegenüber und die Enttäuschung über seine «spätere politische Entgleisung» liessen nie daran zweifeln, «dass ‚Sein und Zeit’ die philosophische Leistung schlechthin unseres Jahrhunderts darstellt». Von diesem Werk bekam Kunz den Anstoss zu seiner Philosophie, die vielleicht in der Diktion zu nahe bei Heidegger lag, um ihrer Eigenständigkeit erkannt zu werden.

Als Doktorvater kam in Basel nur Paul Häberlin in Betracht. Kunz schrieb bei ihm drei Dissertationen, weil Häberlin für die ersten beiden substanzielle inhaltliche Veränderungen verlangte, die Kunz nicht zu erbringen bereit war. Im Übrigen lernte er bei ihm eher, wie man nicht philosophieren sollte. Häberlin war in gewisser Hinsicht ein vorkantischer Philosoph: spekulativ und «gewaltsam». Er setzte nicht bei den Phänomenen an, sondern bei seinem System, nach welchem sich die Phänomene zu richten hatten. Dieser Haltung war das Denken von Hans Kunz diametral entgegengesetzt. Es kam dennoch zur Dissertation und 1946 zur Habilitation. Die zweibände Studie über «Die anthropologische Bedeutung der Phantasie» gilt gemeinhin als das Opus magnum von Kunz.

Die Grundfrage seines Hauptwerkes lautet: Warum hat der Mensch dieses merkwürdige Verlangen, quer zur einzigen realen Welt imaginative Welten zu entwerfen: Bildwelten, Gedankenwelten, Sprachwelten, Vorstellungswelten, Traumwelten, Wahnwelten? Die Antwort wird zunächst in einer phänomenologischen Oberflächendimension und danach in einer mit ihr verbundenen ontologischen Tiefendimension gegeben. Die phänomenologischen Analysen praktisch aller Weltbezüge zeigen uns, dass sie immer wieder für kurze Zeit durch Einfälle, Abschweifungen, Tagträume unterbrochen werden. Diese Unterbrechungen sind die Lücken, in denen sich das Denken aus seiner Zweckgerichtetheit befreit und in ein schweifendes, strömendes und Ich-fernes Fantasieren übergeht. Die Lücken werden zu Nischen der kleinen Fantasmen, die sich zu Gegenwelten auswachen können, die die alle einen mehr oder weniger irrealen Charakter annehmen. Sie können zu Vorwegnahmen des mit dem Todeseintritt verbundenen radikalen Weltverlusts werden. Was hat es mit dieser «Weltflucht» oder auch mit den kleineren Fluchten auf sich, und was treibt uns zu ihnen?

Der kühne ontologische Begründungsgedanke, den Hans Kunz gibt, besagt nun: Es ist nichts anderes als das Denken und die Ratio selber, die uns in das Fantasieren, in die Gegenwelten und in den Weltverlust treiben. Denn «im Ursprung der Ratio ist der virtuelle Tod wirksam». Das Denken und der Wissensakt sind seine Manifestationen. Der virtuelle Tod ist der mögliche, immer noch ausstehende, aber «inständige», d.h. in unserer Mitte innseiende Tod, von dem wir mit absoluter und apriorischer Bestimmtheit wissen, dass er in unseren faktischen Tod münden wird.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, für das der tod sich derart in eine Zweiheit gabelt: in den durch das ganze Leben inständigen, möglichen Tod und in den unerfahrbaren, «endständigen» und faktischen Tod. Im faktischen Tod entgleitet uns alles Seiende, und unsere Seinsart schlägt um aus dem Dasein in das blosse Vorhanden-Sein. Im Wissen des inständigen Todes liegt auch das Wissen um die Unentrinnbarkeit dieses Entgleitens alles Seienden und damit der Welt. Wir sind insofern in der Welt nie ganz zu Hause, obwohl sie unser einziges gemeinsames Zuhause ist. Dass das Denken und der Wissensakt Manifestationen des virtuellen Todes sind, zeigt sich für Kunz aber am deutlichsten darin, dass sie gleiche Merkmale haben: Unanschaulichkeit, Qualitätslosigkeit, Ungegenständlichkeit und Unzeitlichkeit. In ihnen allen wirkt die «nichtende» Kraft des Todes, die auch im Denken liegt. Ist diese nichtende Kraft des inständigen Todes und des Denkens oder unsere «Abständigkeit» zur uns entgleitenden Welt der Grund dafür, dass die Menschen mit solchem Eifer Gegenwelten entwerfen, die sie um die wirkliche Welt nicht bringen, sondern oft auch betrügen? Beides. Aber unsere Abständigkeit zur Welt ist schon eine Folge unseres fundamentalen Wissens: dass wir sterben werden. Dem Wissen um unsere Sterblichkeit entspringen unsere Träume von der Ewigkeit.

Immense Produktion Neben der Dissertation «Zur Phänomenologie und Analyse des Ausdrucks» ist «Die anthropologische Bedeutung der Phantasie» das einzige umfangreichere Werk, das Hans Kunz selber veröffentlicht hat. Er hat aber viel publiziert: in der Zeitschrift «Psyche», die er gemeinsam mit Alexander Mitscherlich und Felix Schottlaender gegründet hat; in den Jahrbüchern der Studia Philosophica, deren deutschsprachiger Hauptredaktor er während 27 Jahren war, und in der NZZ insgesamt an die 800 (!) Rezensionen von philosophischen, psychologischen und psychopathologischen Schriften; in unterschiedlichen Zeitschriften und Sammelbänden eine Fülle von Abhandlungen, zu denen auch viele Arbeiten zur Botanik gehören; und schliesslich wenige Schriften, die als kleinere Bücher erschienen sind. Zu viel der Bescheidenheit angesichts der Qualität dieser Schriften! Hans Kunz ist ein virtuos nuancierender Schriftsteller, der mehrere Sachgebiete profund kennt und ein Gelehrter von Rang, den es zu entdecken gibt.

Jörg Singer, ein ehemaliger Schüler von Kunz, hat es sich zur Aufgabe gemacht, seine Werke im Rahmen einer Gesamtausgabe zu veröffentlichen. Sie wird 18 Bände umfassen, von denen vier erschienen sind: die zweibändige Habilitationsschrift und der Sammelband «Aggressivität, Zärtlichkeit und Sexualität», der einige Abhandlungen enthält, die zum Besten gehören (vor allem die beiden Abhandlungen über «Aggressivität und Zärtlichkeit» und der Essay «Der Mensch als Zerstörer der Natur»), was Kunz geschrieben hat. Die angekündigten weiteren Bände, die viele noch nie erschienene Schriften enthalten, werden diesen stillen und immer etwas scheuen Mann, der sich an der Universität nie wirklich wohl fühlte, unter den Psychologen und Philosophen unseres Landes in die erste Reihe stellen.